Entspannte Sexualität
Sex spielt eine außergewöhnlich große Rolle in unserem menschlichen
Leben. Nach nur wenigen Dingen sehnen wir uns so sehr wie nach
tiefer sexueller Erfüllung. Und gleichzeitig lehnen Menschen nur
wenige Dinge so konsequent oder so heftig ab wie allgegenwärtiges
sexuelles Begehren. Ob leidenschaftliches Verlangen oder strikte
Ablehnung oder alltägliches Meiden sexueller Reize, kaum etwas
bestimmt uns so sehr in jedem Moment unseres Lebens, wie unser
Verhältnis zu unserer Sexualität. Vielleicht sprühen wir vor sexueller
Lebensfreude, vielleicht sind wir offen oder versteckt völlig von Sex
besessen, vielleicht sehen wir viel Angespanntheit darin und fühlen
uns davon abgestoßen, vielleicht spüren wir die tiefe Bedeutung, die
er für unser Leben hat, und die aufwühlenden Gefühle, die er in uns
auslösen kann, vielleicht kämpfen wir dauernd dagegen an, vielleicht
wollen wir von unseren Wünschen möglichst wenig wissen, vielleicht
spüren wir sie kaum. Und meistens ist es eine Mischung von allem, bei
jedem Menschen unterschiedlich.
Uns allen gemeinsam ist aber, dass wir nur wenig wissen, was es
eigentlich genau ist, was wir da suchen - oder so vehement ablehnen -
was es wirklich ist, was sich da so dringend erfüllen möchte - oder
verbannt werden soll.
Wir glauben meist, dass es Lust ist, was wir mit unseren sexuellen
Regungen erleben möchten, dass es um ein Vergnügen mit unserem
Körper geht oder gar um einen Trieb, dem wir mehr oder weniger
ausgeliefert sind. Je nach unseren Einstellungen und Erfahrungen
halten wir das dann für etwas grundlegend zum Menschsein
Gehörendes oder für etwas ablehnenswertes Oberflächliches oder
sogar für etwas äußerst Schädliches, weil wir es wie eine Sucht
erleben, wie etwas, das abhängig, angespannt oder potentiell
gewaltvoll macht, oder weil wir es als etwas Bedrohliches empfinden,
das uns sehr leicht unglücklich macht.
Und dann haben wir noch ein diffuses Bewusstsein darüber, dass Sex
auch irgendetwas mit Liebe zu tun hat, dass er uns offenbar an
Menschen binden kann, dass wir durch ihn besonders stark Nähe und
Geborgenheit erfahren können. Dann glauben wir möglicherweise,
dass Sex etwas ist, das sich nur in einer exklusiven Beziehung mit
einer besonderen Zuneigung verbinden soll und dadurch von etwas,
das scheinbar ohne Liebe ist, zu etwas, das dann mit Liebe ist, werden
soll. Wenn wir uns dann nach Sex sehnen, ohne gerade eine solche
Beziehung zu jemanden zu haben, oder wenn wir bemerken, dass wir
sexuelle Gefühle zu vielen Menschen gleichzeitig haben, halten wir das
für eine aus einem Mangel entstehende Verirrung oder gar für eine
unheilvolle Verführung, der wir besser nicht nachgehen und die wir
möglichst ignorieren oder bekämpfen sollten.
Oder wir beginnen zu ahnen, dass unsere Sexualität doch mehr
bedeutet, dass sie weiter geht als höchstens mit einem Menschen
sexuelle Berührungen zu haben, dass sie unser ganzes Leben und alle
unsere zwischenmenschlichen Verbindungen durchdringt - dass sie
noch eine tiefere Bedeutung hat.
Seit dem Moment unserer Menschheitsgeschichte, seit dem wir
begannen, unsere Körper zu verhüllen und sexuelle Kontakte zu den
Menschen um uns herum als etwas Außergewöhnliches anzusehen,
ist uns unsere natürliche Sexualität verloren gegangen. Unsere wahre
Natur einer jederzeit sanften, schmelzenden, weichen, zärtlichen,
auch aufwühlenden und wild ekstatischen und trotzdem dabei
innerlich entspannten Sexualität ist der verzerrten Form einer eher
angespannten, verhärtenden, überschießenden, groben, gierigen oder
empfindungslosen Sexualität gewichen. Aus in jedem einzelnen
Moment überaus liebevollen sexuellen Gefühlen sind von der Liebe
häufig abgeschnitte sexuelle Gefühle geworden. In dem Maße, wie wir
unsere sexuellen Regungen und unsere Körper tabuisieren,
verstecken, verschleiern und zu etwas nicht Alltäglichem erheben,
entsteht unweigerlich in uns eine künstlich angespannte Geilheit,
bekommen unsere sexuellen Regungen eine verfälschte Qualität,
etwas Aufgereiztes, Spitzes, gierig Drängendes, angespannt Haben-
Wollendes, scheinbar Triebhaftes - oder zeigen sich im Gegensatz
dazu in einer zunehmenden Taubheit, Leere, Gefühllosigkeit. Die Art,
wie wir Sexuelles erleben, ist dann nur noch ein oberflächlicher
Ausdruck von dem, was unsere menschliche Sexualität eigentlich
ausmacht.
Wir können daran so sehr gewöhnt und darauf so sehr fixiert sein,
dass wir ohne diese emotionale Anspannung, ohne diesen Reiz des
Besonderen, des Unerhörten und den entsprechenden Fantasien in
unserem Kopf kaum mehr in der Lage sind, eine sexuelle Erregung zu
fühlen. Dann nehmen wir fast nur noch angespannte sexuelle
Erregung überhaupt als sexuelle Erregung wahr, bemerken unsere
Anspannung darin nicht mal mehr und haben nur wenig Vorstellung
davon, dass es auch eine sehr zarte, feine, sanft fließende, nach innen
wirkende, von anschwellenden Reaktionen manchmal auch
unabhängige und dennoch bzw. gerade in dieser Weichheit bis zum
wahren Höchsten steigerbare sexuelle Erregung geben kann.
Dann kann unser sexuelles Begehren in unseren langjährigen
Beziehungen langsam weniger werden und uns glauben lassen, dass
es eine Art natürliche "Abnutzung" ist, dass es nicht anders sein kann,
als dass es durch Gewöhnung nicht mehr so häufig spannend und
erregend ist.
Vor allem aber führt uns unsere mit angespannten Gefühlen
begleitete Erregung zu einem wenig hilfreichen Umgang mit unserem
Körper. Anstatt uns überall und gerade auch unsere Genitalien in
einer sehr feinen, in den Körper hinein wirkenden, überaus zärtlichen
und dennoch sehr klaren Weise zu berühren, gehen wir so oft zu
schnell mit zu heftig oberflächlich reibenden Stimulationen in unsere
Intimbereiche, spannen unseren Beckenboden sehr viel an und
versuchen immer mehr Erregung in unsere Genitalien zu ziehen,
immer stärkere Schwellungen und schließlich möglichst
kontrahierende Orgasmen auszulösen.
Mehr und mehr verlieren wir die feine Sensibilität für zarte
Berührungsreize und Stimulationen, die uns eigentlich so sehr zu
eigen ist. Dabei könnten wir gerade mit leisen, aber sehr präsenten
Berührungen mit kleinen, sanften, in den Körper hinein pulsierenden
Bewegungen an unseren jetzt gerade besonders empfänglichen
Stellen sehr intensive und durchdringende Erregungen auslösen.
Von hier aus können wir beginnen, die Intensität der Stimulationen
langsam zu steigern, können in aller Feinheit und Zärtlichkeit immer
wilder werden und uns den in weicher Spannung sich aufbauenden
Wellen der Ekstase hingeben.
Die Erregung, die aus solchen feinen Berührungen heraus entsteht,
kann uns so sehr berühren, dass sie unsere tiefsten und damit oft
auch schmerzhaftesten Gefühle nach oben bringt.
Doch so häufig erleben wir unseren Sex mehr als etwas, mit dem wir
lediglich Spannungen in uns abbauen möchten, und weniger als
etwas, mit dem wir unsere tiefen Gefühle und unsere wertvolle
Lebensenergie sanft und kraftvoll hervorlocken und anregen möchten.
Wir glauben, dass „richtiger“ Sex vor allem heftig stimulierend geht,
dass Sex so sein muss, dass die Lustgefühle und Entladungen, die wir
auf solche Weise haben, das sind, was wir erleben möchten, was wir
brauchen. Wir glauben das und machen das, weil wir das Fühlen des
tiefen Sehnens nach Liebe scheuen, das wir fühlen würden, wenn wir
uns lange Zeit sehr zart stimulieren würden, uns dabei tief in unserem
Becken entspannen und öffnen und unsere Erregung mehr nach innen
als nach außen lenken würden.
Dabei möchte sich gerade mit diesem Sehnen genau die Liebe, die wir
so sehr brauchen, bereits ein Stück weit in uns erfüllen. Wenn wir
intensiv das Sehnen in oder hinter unserer Erregung und unseren
sexuellen Wünschen fühlen würden, würden wir allein durch dieses
Fühlen uns mit dieser Liebe erfüllen, würden wir erfüllt von ihr leben -
würde jede unserer sexuellen Regungen uns in die Liebe zu allen und
allem bringen.
Wir wissen und fühlen
zu wenig,
was wir im Sex suchen.
© Eduard Erhart 2023
Unsere Sexualität
durchdringt
unser ganzes Leben.
Wenn wir unsere sexuellen
Regungen tabuisieren,
entsteht unweigerlich in uns
eine künstlich
angespannte Geilheit.
Wir haben eine überaus
feine Sensibilität
für
zarteste Berührungsreize.
Wenn wir die weichen,
sehnenden Gefühle
hinter unserer Erregung
fühlen,
wird sie uns in eine
alles umfassende Liebe
bringen.
Sex
ist nicht dafür da,
Spannungen abzubauen,
sondern
Lebensenergie anzuregen.